Foto: Kristien Daem, Brüssel
Gunhild Tuschen
ist es das, was du siehst, oder siehst du das, was es ist?
Galerie im Stammelbachspeicher – 23. April – 21. Mai 2023
Dr. Norbert Hilbig
Die Sonne zu malen und das, was ihr Licht macht, mit uns und der Welt, das ist ein Faszinosum für Kunst und Künstler immer gewesen. Na klar. Wie sollte es anders sein. Ganz anders ist es mit der Nacht, in der (was ja nie stimmt) „alle Katzen grau“ sind. Die Nacht, ich meine die wirklich tiefe, dunkle, schwarze Nacht und das, was sie mit uns macht, das lässt sich vielleicht gar nicht malen. Erst recht nicht die schlaflose Nacht, die doppelt so lang währt wie die verschlafene. Und doppelt so quälend in der Ereignislosigkeit, in der Ereignisarmut, und trotzdem so voll von drängenden Eindringlingen und Quälgeistern.
Gunhild Tuschen hat etwas gemalt, was sich der Verbildlichung ganz eigentlich verweigert. Sie hat etwas fast Unmögliches geschafft. Sie hat das unsichtbare Dunkel der Nacht gemalt. Und das, was in ihr vibriert. Sie hat eine Farbe gefunden, ein dunkles Blau, ein Preußischblau, ein Berliner Blau, das von Schwärze und Schwermut überschattet ist. Sie hat dieses sprachlose Nachtblau auf große Leinwände gemalt, manchmal nur gehaucht und durch-zittert, als ginge ein Luftzug durch die Farbe, ganz leise. Aber spürbar. Und dann passiert auf der Leinwand, was in der Nacht dem Schlaflosen widerfährt, es schwirren diese unkontrollierbaren Gedankenfetzen durch die langen Stunden der Stille. Gedankensplitter zerreißen den Schlaf der Dunkelheit. Sie lassen sich nicht einfangen, sie bauen sich auf zu Gebirgen und verschwinden sogleich. Sie durchkritzeln die Stille, sie durchzittern das Blau, sie verunmöglichen den Schlaf, sie quälen und sie verlöschen mit Tagesanbruch, ganz so, als wären sie nicht gewesen.
Es ist keine wortlose Finsternis, die Gunhild Tuschen malt, es sind durchlebte Nächte, die zu malen ihr ein ums andere Mal gelingt. Nächte mit Träumen und Nächte mit Schmerzen. Stern- und mondlose Nächte, lange Nächte mit langem Warten. Und manchmal lässt das Licht am Bildrand den hellen Tag erahnen, der sie erlöst.
Vielleicht sind es aber auch nur Nachtgefühle. Dann also lebte nicht die Nacht selbst im Bild, sondern all das, was in ihr durchwacht wird. Das alles ist möglich, das alles kann man so sehen. Muss man aber nicht. Vielleicht hat Gunhild Tuschen beim Malen ganz anders gedacht und gefühlt. Mag sein. Aber dass man ihre Bilder in der erzählten Weise sehen kann, das ist doch fantastisch! Oder?
Und dann – wie von einem anderen Stern, Gunhild Tuschens zitronengelbe, rapsblühende, strahlende, sonnenhelle Gesten auf weißem Grund. Ja, es sind hier Bewegungen wie Gesten, Pinselstriche wie aus dem Handgelenk, hingeworfen wie eine Bemerkung. Eine gestische Malerei, die davon zeugt, wie Arme und Hände durch die Luft fahren, um das gesprochene Wort zu bestätigen. Der gelebte Augenblick, die Sekunde der Drehung beim Tanz, das ist mit dem Pinsel nachvollzogen.
Die kleine Verbeugung, ein unbeachteter Wink, der kaum bemerkte Fingerzeig ebenso wie die monumental ausladende Armbewegung, alles in Sekundenschnelle vorbei – und dann doch lange wirksam, vielleicht folgenschwer und dem Gedächtnis eingeprägt: das zeigen diese Bilder.
Die Pinselstriche bei Gunhild Tuschen wirken so hingehauen, so zufällig, so ganz ohne Absicht und Ziel. Aber das ist nicht so. In jeder dieser Arbeiten geht es um formale Stimmigkeit, Ausgewogenheit und Perfektion. Jedes Detail ist stimmig im Ganzen beheimatet, jede Einzelheit hat seinen festen Platz in einem gestalteten Universum von Farbe und Form. So wie in der Grazie einer Tänzerin die Schmerzen quälender Proben nicht mehr zu finden sind. Sie fliegt so leicht dahin, als wäre es nichts. Wären die Qualen sichtbar, es wäre die Grazie verloren. Das Leichte ist nicht leicht, es scheint nur so. Und das Makellose lässt schlimmstenfalls die Mühe erahnen, die seine Tilgung erforderte. Aber sichtbar ist sie nicht. Nicht mehr.
Wir suchen in Bildern Geschichten. Aber es gibt bei Gunhild Tuschen keine Geschichten. Es wird nichts erzählt. Es gibt keinen Plot, keinen irgend gearteten Erzählstrang, an dem entlang wir uns selbst nacherzählen könnten. Viel zu oft suchen wir, was nicht da ist, und was da ist, sehen wir nicht. Eine Geschichte kann gelogen sein, eine Nachricht gefälscht, die Wiedergabe eines Ereignisses kann das tatsächliche Ereignis verzerren. Ein abstraktes Bild kann nicht lügen. Im schlimmsten Fall belügen wir uns selbst. Selten machte eine Überschrift, selten machte ein Ausstellungstitel mehr Sinn: „Ist es das, was du siehst, oder siehst du das, was es ist.“ Es ist was es ist. Punkt.